| Casimir, so, wie er gefunden wurde | 
Ich
 bin Casimir. Nein, das ist nicht richtig, denn noch bin ich Kasimir, 
und ich weiß noch nicht, was auf mich zukommt. Oh, auch das ist nicht 
richtig. Noch weiß ich gar nicht, dass ich erst Kasimir, und dann 
Casimir werde, und dass ich viele Freundinnen und Freunde finden und viele Abenteuer erleben werde. 
Noch
 bin ich einfach nur ein verlorener Bär mit einem blauen Schal. Aber 
nicht einmal das weiß ich. Ich bin einfach nur verloren. Dass ich einmal
 zu einem Anhänger gehört haben muss, zeigt eine metallene Öse auf 
meinem Kopf. Aber das Verlorenwerden ist vor dieser Geschichte, und es 
ist eigentlich keine Geschichte, sonst könnte ich es erinnern. Doch ich 
weiß nicht wie, wo und wem ich verloren ging, ich weiß nicht, ob ich im 
Verlorensein vermisst wurde. Das sind Dinge, die vor meinem 
Gefundenwerden stattfanden, und lange bevor ich meine Namen bekam. 
Aber
 der Reihe nach. Sofern es überhaupt eine Reihe gibt, so eine Reihe von 
Zeitpunkten, die nacheinander folgen, eine Kette von Zeitperlen, ja, so 
könnte man es nennen, jede zu ihrer Zeit, eine nach der anderen. Ich bin
 mir aber nicht sicher, ob es diese Ketten in Geschichten überhaupt 
geben kann, denn Geschichten sind wie das Leben selbst. Vom Leben selbst
 weiß ich zwar nicht viel, denn solange habe ich noch nicht mein 
Gefundenwerden, doch schon in der verhältnismäßig kurzen Zeit, in der 
ich mich in dieser Geschichte aufhalte, durfte ich lernen, dass im Leben
 viele Geschichten ineinander verflochten sind, und irgendwie möchte das
 alles nicht geradlinig verlaufen. 
| Casimir ohne Haken und Öse | 
Also
 begann meine Geschichte, oder, besser, eine meiner Geschichten, und 
zwar eine derer, die ich nicht vergessen habe, es begann meine 
Geschichte mit dem Gefundenwerden. So wurde aus dem Gefundenwerden ein 
Gefundensein. Damit möchte ich diese Geschichte 
beginnen lassen.
Kleine
 Bären mit einem blauen Schal um den Hals werden nicht geboren, so wie 
Eichhörnchen oder Katzen oder Menschenkinder geboren werden. Das habe 
ich schon verstanden. Die kleinen Kätzchen und Eichhörnchen und 
Menschenkinder sind ganz hilflos, und leben in ihrer eigenen Welt und 
gleichen sich mehr und mehr der Welt ihrer Eltern an, bis sie gelernt 
haben, sich dort zurecht zu finden.
Als
 ich gefunden wurde, konnte ich mich sofort in der Welt zurechtfinden, 
denn ich war ja „erwachsen“, im Sinne von ausgewachsen. Ich wusste, was 
eine Straßenbahn ist, dass ich bei Rot  nicht über die Straße gehen 
darf, dass die komischen Kringel auf dem Ladenschild „Bäcker“ bedeuten, 
und dass Mathematik die Lehre von den Zahlen ist. All das und noch viel 
mehr wusste ich. Ich konnte nach meinem Gefundenwerden quasi sofort 
aufstehen und mir ein Brötchen kaufen, ohne von einer Straßenbahn 
überfahren zu werden.
Dieses
 Mal wurde ich gefunden von einem Mann, der den Bürgersteig im Viertel entlang ging. Nicht in einem Viertel der Stadt, sondern in dem 
Viertel. Das wird so genannt hier: das Viertel. Ich lag in der Nähe des 
einen Kinos, direkt an der Wand. Es war bestimmt nicht einfach, mich zu 
sehen. Aber dieser Mann sah mich. Er blickte die meiste Zeit auf den 
Boden, selten in die Gesichter der entgegenkommenden Passanten oder in 
die Schaufenster der vielfältigen kleinen Läden. Er sah mich, sah sich 
kurz um, als wäre es ihm etwas peinlich, Dinge von der Straße 
aufzuheben, und, als wolle er sich vergewissern, ob keiner zuschaut. Dann
 bückte er sich kurz, nahm mich auf, hielt mich in der Handfläche, mit 
gekrümmten Fingern, richtete sich schnell wieder auf und ging weiter. 
Das alles ging sehr hurtig vonstatten, so als läge eine lange Übung 
darin. Mir kam es so vor, dass dieser Mann öfter etwas fand, und so 
war es schließlich auch. Ich wurde von einem Dingefinder gefunden.
Lang
 war er, und hager. Schwer einschätzbar sein Alter, aber schon weit 
jenseits der Mitte vierzig, die Haare waren schon grau. Sie waren ihrem 
Schnitt etwas entwachsen, lagen am Kragen des dunkelblauen Hemdes auf, 
ließen jedoch die Ohren frei. Über der Stirne fielen seine Haare fast in
 die Augen, die klug und etwas traurig aus dem feingeschnittenen Gesicht
 schauten. Eine leichte Müdigkeit lag über diesem Gesicht und die Haut 
war etwas gerötet, besonders rechts und links von der Nase zeigten sich 
kleine rote Flecken. Auch sah es aus, als wäre die morgendliche Rasur 
ausgefallen. Im großen und ganzen war er eine unauffällige Erscheinung, 
in schwarze Jeans gekleidet, die Schuhe einfache dunkle Schnürschuhe, 
denen man ihren längeren und häufigen Gebrauch ansah.
Er querte hastig eine nahe Kreuzung, die Fußgängerampel zeigte für 
ihn gerade grün, dann, nach ein paar Schritten, hob er seine Hand, 
öffnete sie und schaute mich an. Er schaute mich an, im Gehen, er wurde 
langsamer, während er schaute, und dann begann er zu lächeln. Es war ein
 Lächeln, dass sich wie ein freundlicher morgendlicher Sonnenaufgang 
über seinem Gesicht ausbreitete. Mit einem Male war sein gesamtes 
Gesicht ein Lächeln, und selbst seine hagere Gestalt schien mit zu 
lächeln. Es lächelte alles an ihm. 
Ich
 weiß nicht, ob es eine Reaktion auf mein breites heiteres 
Kleine-Bären-Lächeln war,  was ihn so strahlen ließ, aber er gefiel mir 
dadurch sofort, und auch ich schien ihm augenblicklich zu gefallen. Er 
blieb sogar stehen, mitten auf dem Bürgersteig, und ohne auf 
irgendwelche Passanten und ihre Reaktionen zu achten, er blieb einfach 
stehen und schaute mich fröhlich an. Wir schauten uns an. Ich fühle mich
 wie neugeboren, und so war es ja auch. Das Erstaunliche jedoch war, ihm
 schien es genauso zu gehen.
Eine
 junge Frau in einem geblümten leichten Kleid unter einem Bolerojäckchen
 schaute ihn belustigt an, auch sie musste unwillkürlich lächeln, und 
ihre Augen begannen zu glänzen. Es war, als hätte der Bürgersteig um uns
 herum eine Aura von Heiterkeit gewonnen. 
Mit
 dem unausgesprochenen, wenn auch etwas belustigten Zuspruch der Frau 
wurde ihm gewahr, dass er sich immer noch mitten auf einem Bürgersteig im
 Viertel befand. Sofort erlosch das Lächeln in seinem Antlitz, er 
schaute sich etwas scheu um, ob noch weitere Passanten ihn beobachten, 
und, da das wohl nicht der Fall war, setzte er wieder eine neutrale 
Miene auf, die ihn fast unsichtbar machte. Dabei schob er die Hand, in 
der ich mich befand, in eine seiner Jackentaschen und platzierte mich 
sorgsam dort hinein. 
| Häuptling Casimir (dazu später mehr. . .) | 
Er
 war dabei sehr vorsichtig, und ich merkte schnell, woher diese Vorsicht
 rührte, als erstes verkündete es mir meine Nase: In der Jackentasche 
befand sich ein duftendes Blütenbüschel von rosafarbenen Blüten. Diese 
Blüten waren so in die Jackentasche gezirkelt, das sie nicht gedrückt 
wurden.
Letzteres
 erklärte auch den etwas seltsam schrägen Gang, den er an sich hatte. 
Die Hand über der Jackentasche war immer etwas abgespreizt von der Jacke
 gehalten, dass sie auch ja nicht den Inhalt der Tasche drücke. In 
dieser duftenden Wohnstatt befand ich mich jetzt. Es gefiel mir dort und
 ich machte es mir bequem, indem ich meinen Kopf in duftende 
Blütenblätter legte, als wären es die Lustkissen der Königin Kleopatra. 
So ließ ich mich tragen und erwartete die Dinge, die da kommen würden.
 Ich
 spürte, dass wir noch eine Weile gingen, dann standen, und schließlich 
in eine Straßenbahn einstiegen. Bei deren Geruckel und summenden 
Fahrgeräuschen schlief ich ein.
Das ist wirklich eine spannende Geschichte!
AntwortenLöschenBin mal gespannt wie es mit Casimir weitergeht!
bin gespannt auf die Fortsetzung. Jetzt habe ich den Dingefinder schon ganz schön viel mehr kennengelernt. Der Kasimir ist ein guter Beobachter und Beschreiber von Dingen und Menschen.
AntwortenLöschenDiese Satz der folgt enthält Wahres und so viel Bedenkenwertes und auch viel trauriges Entsagendes:
"Menschenkinder sind ganz hilflos, und leben in ihrer eigenen Welt und gleichen sich mehr und mehr der Welt ihrer Eltern an, ..."
Das sag ich auch immer. Könnte von mir sein. Lieben Gruß an Kasimir.
Ich werde den Gruße an Casimir ausrichten. Er leigt gerade in seiner "Hängematte" und lässt die Göttin eine gute Frau sein. :-)
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