Montag, 16. April 2012

Casimir stellt sich vor

Casimir, so, wie er gefunden wurde
Ich bin Casimir. Nein, das ist nicht richtig, denn noch bin ich Kasimir, und ich weiß noch nicht, was auf mich zukommt. Oh, auch das ist nicht richtig. Noch weiß ich gar nicht, dass ich erst Kasimir, und dann Casimir werde, und dass ich viele Freundinnen und Freunde finden und viele Abenteuer erleben werde.

Noch bin ich einfach nur ein verlorener Bär mit einem blauen Schal. Aber nicht einmal das weiß ich. Ich bin einfach nur verloren. Dass ich einmal zu einem Anhänger gehört haben muss, zeigt eine metallene Öse auf meinem Kopf. Aber das Verlorenwerden ist vor dieser Geschichte, und es ist eigentlich keine Geschichte, sonst könnte ich es erinnern. Doch ich weiß nicht wie, wo und wem ich verloren ging, ich weiß nicht, ob ich im Verlorensein vermisst wurde. Das sind Dinge, die vor meinem Gefundenwerden stattfanden, und lange bevor ich meine Namen bekam.

Aber der Reihe nach. Sofern es überhaupt eine Reihe gibt, so eine Reihe von Zeitpunkten, die nacheinander folgen, eine Kette von Zeitperlen, ja, so könnte man es nennen, jede zu ihrer Zeit, eine nach der anderen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es diese Ketten in Geschichten überhaupt geben kann, denn Geschichten sind wie das Leben selbst. Vom Leben selbst weiß ich zwar nicht viel, denn solange habe ich noch nicht mein Gefundenwerden, doch schon in der verhältnismäßig kurzen Zeit, in der ich mich in dieser Geschichte aufhalte, durfte ich lernen, dass im Leben viele Geschichten ineinander verflochten sind, und irgendwie möchte das alles nicht geradlinig verlaufen.

Casimir ohne Haken und Öse
Also begann meine Geschichte, oder, besser, eine meiner Geschichten, und zwar eine derer, die ich nicht vergessen habe, es begann meine Geschichte mit dem Gefundenwerden. So wurde aus dem Gefundenwerden ein Gefundensein. Damit möchte ich diese Geschichte beginnen lassen.

Kleine Bären mit einem blauen Schal um den Hals werden nicht geboren, so wie Eichhörnchen oder Katzen oder Menschenkinder geboren werden. Das habe ich schon verstanden. Die kleinen Kätzchen und Eichhörnchen und Menschenkinder sind ganz hilflos, und leben in ihrer eigenen Welt und gleichen sich mehr und mehr der Welt ihrer Eltern an, bis sie gelernt haben, sich dort zurecht zu finden.

Als ich gefunden wurde, konnte ich mich sofort in der Welt zurechtfinden, denn ich war ja „erwachsen“, im Sinne von ausgewachsen. Ich wusste, was eine Straßenbahn ist, dass ich bei Rot  nicht über die Straße gehen darf, dass die komischen Kringel auf dem Ladenschild „Bäcker“ bedeuten, und dass Mathematik die Lehre von den Zahlen ist. All das und noch viel mehr wusste ich. Ich konnte nach meinem Gefundenwerden quasi sofort aufstehen und mir ein Brötchen kaufen, ohne von einer Straßenbahn überfahren zu werden.

Dieses Mal wurde ich gefunden von einem Mann, der den Bürgersteig im Viertel entlang ging. Nicht in einem Viertel der Stadt, sondern in dem Viertel. Das wird so genannt hier: das Viertel. Ich lag in der Nähe des einen Kinos, direkt an der Wand. Es war bestimmt nicht einfach, mich zu sehen. Aber dieser Mann sah mich. Er blickte die meiste Zeit auf den Boden, selten in die Gesichter der entgegenkommenden Passanten oder in die Schaufenster der vielfältigen kleinen Läden. Er sah mich, sah sich kurz um, als wäre es ihm etwas peinlich, Dinge von der Straße aufzuheben, und, als wolle er sich vergewissern, ob keiner zuschaut. Dann bückte er sich kurz, nahm mich auf, hielt mich in der Handfläche, mit gekrümmten Fingern, richtete sich schnell wieder auf und ging weiter. Das alles ging sehr hurtig vonstatten, so als läge eine lange Übung darin. Mir kam es so vor, dass dieser Mann öfter etwas fand, und so war es schließlich auch. Ich wurde von einem Dingefinder gefunden.

Lang war er, und hager. Schwer einschätzbar sein Alter, aber schon weit jenseits der Mitte vierzig, die Haare waren schon grau. Sie waren ihrem Schnitt etwas entwachsen, lagen am Kragen des dunkelblauen Hemdes auf, ließen jedoch die Ohren frei. Über der Stirne fielen seine Haare fast in die Augen, die klug und etwas traurig aus dem feingeschnittenen Gesicht schauten. Eine leichte Müdigkeit lag über diesem Gesicht und die Haut war etwas gerötet, besonders rechts und links von der Nase zeigten sich kleine rote Flecken. Auch sah es aus, als wäre die morgendliche Rasur ausgefallen. Im großen und ganzen war er eine unauffällige Erscheinung, in schwarze Jeans gekleidet, die Schuhe einfache dunkle Schnürschuhe, denen man ihren längeren und häufigen Gebrauch ansah.

Er querte hastig eine nahe Kreuzung, die Fußgängerampel zeigte für ihn gerade grün, dann, nach ein paar Schritten, hob er seine Hand, öffnete sie und schaute mich an. Er schaute mich an, im Gehen, er wurde langsamer, während er schaute, und dann begann er zu lächeln. Es war ein Lächeln, dass sich wie ein freundlicher morgendlicher Sonnenaufgang über seinem Gesicht ausbreitete. Mit einem Male war sein gesamtes Gesicht ein Lächeln, und selbst seine hagere Gestalt schien mit zu lächeln. Es lächelte alles an ihm.

Ich weiß nicht, ob es eine Reaktion auf mein breites heiteres Kleine-Bären-Lächeln war,  was ihn so strahlen ließ, aber er gefiel mir dadurch sofort, und auch ich schien ihm augenblicklich zu gefallen. Er blieb sogar stehen, mitten auf dem Bürgersteig, und ohne auf irgendwelche Passanten und ihre Reaktionen zu achten, er blieb einfach stehen und schaute mich fröhlich an. Wir schauten uns an. Ich fühle mich wie neugeboren, und so war es ja auch. Das Erstaunliche jedoch war, ihm schien es genauso zu gehen.

Eine junge Frau in einem geblümten leichten Kleid unter einem Bolerojäckchen schaute ihn belustigt an, auch sie musste unwillkürlich lächeln, und ihre Augen begannen zu glänzen. Es war, als hätte der Bürgersteig um uns herum eine Aura von Heiterkeit gewonnen.

Mit dem unausgesprochenen, wenn auch etwas belustigten Zuspruch der Frau wurde ihm gewahr, dass er sich immer noch mitten auf einem Bürgersteig im Viertel befand. Sofort erlosch das Lächeln in seinem Antlitz, er schaute sich etwas scheu um, ob noch weitere Passanten ihn beobachten, und, da das wohl nicht der Fall war, setzte er wieder eine neutrale Miene auf, die ihn fast unsichtbar machte. Dabei schob er die Hand, in der ich mich befand, in eine seiner Jackentaschen und platzierte mich sorgsam dort hinein.

Häuptling Casimir (dazu später mehr. . .)
Er war dabei sehr vorsichtig, und ich merkte schnell, woher diese Vorsicht rührte, als erstes verkündete es mir meine Nase: In der Jackentasche befand sich ein duftendes Blütenbüschel von rosafarbenen Blüten. Diese Blüten waren so in die Jackentasche gezirkelt, das sie nicht gedrückt wurden.

Letzteres erklärte auch den etwas seltsam schrägen Gang, den er an sich hatte. Die Hand über der Jackentasche war immer etwas abgespreizt von der Jacke gehalten, dass sie auch ja nicht den Inhalt der Tasche drücke. In dieser duftenden Wohnstatt befand ich mich jetzt. Es gefiel mir dort und ich machte es mir bequem, indem ich meinen Kopf in duftende Blütenblätter legte, als wären es die Lustkissen der Königin Kleopatra. So ließ ich mich tragen und erwartete die Dinge, die da kommen würden.

 Ich spürte, dass wir noch eine Weile gingen, dann standen, und schließlich in eine Straßenbahn einstiegen. Bei deren Geruckel und summenden Fahrgeräuschen schlief ich ein.

3 Kommentare:

  1. Das ist wirklich eine spannende Geschichte!
    Bin mal gespannt wie es mit Casimir weitergeht!

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  2. bin gespannt auf die Fortsetzung. Jetzt habe ich den Dingefinder schon ganz schön viel mehr kennengelernt. Der Kasimir ist ein guter Beobachter und Beschreiber von Dingen und Menschen.
    Diese Satz der folgt enthält Wahres und so viel Bedenkenwertes und auch viel trauriges Entsagendes:

    "Menschenkinder sind ganz hilflos, und leben in ihrer eigenen Welt und gleichen sich mehr und mehr der Welt ihrer Eltern an, ..."

    Das sag ich auch immer. Könnte von mir sein. Lieben Gruß an Kasimir.

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  3. Ich werde den Gruße an Casimir ausrichten. Er leigt gerade in seiner "Hängematte" und lässt die Göttin eine gute Frau sein. :-)

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