Montag, 14. Mai 2012

Rückkehr

Dem Blätterbett entstiegen
Ich krabbelte aus meinem Blätterbett. Unversehens fand ich mich auf einem Gartenweg aus schmalen Betonplatten wieder, in dessen Ritzen die Gräser wuchsen. Nun bin ich ja klein, und so ist für mich solch ein Grasbüschel das, was für die großen Menschen eine Strauchgruppe ist. Um jedes Büschel musste ich herum wandern mit meinen kurzen Bärenbeinen, wobei mir meine plumpen Füße eher hinderlich waren. Ich war des Gehens entwöhnt. 

In der Ferne sah ich das Klein Häuschen, und mutig steuerte ich darauf zu. Ach, könnte ich doch Wunschwandern, wie schnell wäre ich dann dort. Aber nein, ich musste Schritt vor Schritt setzen, und immer, wenn eine Zeit verstrichen war, in der ich ging und ging, immer einen Fuß vor den anderen, merkte ich, dass ich meinem eigentlichen Ziel noch gar nicht näher gekommen war. Wo ich vor kurzem noch gejubelt hatte, von meiner duftigen Blütenwarte aus: "So groß die Welt!", so schimpfte ich jetzt leise vor mich hin: "Die Welt ist so groß!". Ich war ein armer, kleiner Bär mit einem blauen Schal um den Hals, zwar gefunden, doch nur um über endlose graue Betonwege zu wandern, um Grasbüschel und andere Kräuter herum, einem fernen Ziel entgegen. . .



Hindernisse
Endlos wurde der Weg mir, ich zählte nicht mehr die Stunden, doch schließlich kam ich dem Klein Häuschen näher und näher. Schritt für Schritt, Tapps für Tapps, höher und höher wuchsen die Bretterwände vor mir auf, und schließlich stand ich, nach so lang empfundener Zeit, vor der Tür. Diese war verschlossen. Drinnen hörte ich meinen Finder rumoren, es gab die merkwürdigsten Zischgeräusche, Rauschen und Blubbern, ein Unerklärliches fand darinnen statt, welches meinen Finder davon abhielt, mich kleinen Bären vor seiner Tür zu bemerken. Später sollte ich erfahren, dass diese Geräusche vom Wasserkochen und vom Kaffee aufbrühen herrührten, doch jetzt waren sie mir unverständlich.


So weit der Weg. . .
Dann wurde es wieder still im Haus, dann hörte ich das leise klapperdieklapp-tappsditapps von Fingern, welche über die Tastatur huschten. Mein Finder hatte sich wieder den kleinen schwarzen Buchstaben gewidmet. Ich wusste aus Erfahrung, wenn er dabei war, war für ihn die Außenwelt vergessen, und wenn er einmal aufschaute, dann würde er mich sicher mit gedankenverlorenem Blick auf meiner Steinscheibe auf dem Fensterbrett stehen sehen.

Ich wollte nur noch heim, hinein ins Klein Häuschen, hin zu meinem Ort, wo alles vertraut war. Nichts anderes beschäftigte mich mehr, ich war nur noch Wunsch und Sehnsucht, und da geschah es: Eine klärende Strömung von meinen wunden Füßchen hin zu meinen Kopf hin zu der Weite des Himmels, eine Aura von Licht um mich, eine süße Seligkeit im Inneren, und ich stand wieder dort, von wo aus ich los gewandert war und schaute in den Garten.

Freitag, 27. April 2012

Der verwunschene Garten

Das Gewächshaus in Nachbars Garten
Da war ich also in meinem Blütenhochsitz und ließ mich von der Sonne bescheinen. Manchmal kam Zephyr, der milde Frühlingswind, vorbei und in wärmender Zartheit strich er um meine Wangen. Von meiner Warte aus konnte ich Garten und Klein Häuschen genauer betrachten. Noch waren die letzten Spuren des vergangenen Winters nicht verblasst, noch war trotz erster Blütenfülle das Neue eine Verheißung, noch war Beginnen in Allem.

Fröhlich war ich, und ich wunschwanderte in das Gewächshaus in Nachbars Garten, welches ich von weitem gesehen hatte und das ich unbedingt untersuchen wollte, stand verzückt vor den großen kleinen Kürbispflanzen darin, deren Blätter sich wie Sonnenschirme über meinem Haupte wölbten, um dann wieder zurück zu meiner Blütenwarte zu kommen, und um den Möven beim Flug in die blaue Ferne hinterher zu schauen. 

Schließlich wollte ich zurück ins Atelier auf meine Steinscheibe, ich hatte die Sehnsucht, wieder einzutauchen in den Dunstkreis meines Finders, der immer noch schreibend im Klein Häuschen saß. Ich winkte ihm zu, jedoch ganz offensichtlich beachtete er mich nicht, sah mich nicht einmal, wähnte mich noch immer auf meinem angestammten Platz auf der Fensterbank. Ich stand klein und verdeckt in einem Blütenbüschel, etliche Meter vom Klein Häuschen entfernt, wie sollte er mich auch erkennen? Außerdem, ich wusste ja, wenn er sich in der Welt seiner kleinen schwarzen Buchstaben aufhielt, war er für die äußere Welt kaum zu erreichen. Und sicher sah er mich jedes mal, wenn er aufblickte, auf der Steinscheibe stehen, weil er vermeinte, mich dort sehen zu müssen.


Die große kleine Kürbispflanze im Gewächshaus
Eine Traurigkeit befiel mich unvermittelt, ich dachte: Ja, so müsste es sein, wenn man verloren ist. Warum, zapperlot, klappte es mit dem Wunschwandern nicht? Noch wusste ich wenig über die Mechanismen des Wunschwanderns, ich war doch nur durch Zufall darauf gestoßen. 

Ich war in meiner Kleine-Bären-mit-blauem-Schal-Welt immer einfach gewesen, einfach da, wie ich war, wo ich war, was ich war. Noch ahnte ich nicht, dass ich durch die Berührung mit der Menschenwelt auch mit der Zweiheit und dem ihr innewohnenden Zweifel in Berührung kam. Zu einem Teil war ich kleiner Bär mit blauem Schal um den Hals, zu einem anderen Teil ein Stücklein Mensch in all seiner Verstricktheit. Das alles war Folge des Gefundenseins. Mein Sein und Wünschen war nicht mehr nur eindeutig. 

In der Zeit, in der ich von meiner Blütenwarte aus das Klein Häuschen und den Garten inspizierte, auch das Nachbarhäuschen mit Gewächshaus daneben, welches für mich hinter einer Hecke sichtbar war, in dieser Zeit hatte ich mir, fast wie einen Infekt, eine Neugierde und damit verbunden viele neue Wünsche eingefangen. Eine Neugierde auf das Gewächshaus und seine Bewohner, auch eine Neugierde auf die verschiedenen Pflanzen des Gartens.

Es gab in mir zwar eine Ahnung um Zusammenhänge, wieder war da etwas, das ich wusste, ohne es zu wissen. Oh, wenn ich diese Ahnung und dieses Wissen fixieren wollte, verschwand es in eines von hunderttausend Löchern. Es blieb nur ein leises vielfaches Echo kleiner trappelnder Füßchen, hier, da, hier, da, hier, da, hier, da. . . Mein Lauschen schweifte den Klängen in meinem Inneren nach, rechts, links, hier, da, und verlor sich alsbald, hier, da. . .

All dies verhinderte mein Wissen und Wünschen, und jedesmal, wenn Lauschen und Gedanken in dieser Echohöhle mäanderten verschwand mir diese so gewisse Welt. Wieder flog mich die Verlorenheit an, und ich empfand etwas, was mir neu war: Einsamkeit. 

Es war, als stände ich vor einem großen Bühnenvorhang aus schweren, dunklen Damast, und keine Macht der Welt konnte ihn öffnen und mir die große Bühne zeigen. Es wurde dunkel um mich, es schien die Blütensonne, doch verschwand dieser Teil der Welt, und in mir wurde es Nacht. Alles in mir schwieg. 

Als es um mich wieder hell ward, erwachte ich in der sammet-filzigen Hülle der großen Königskerzenrosette, gebettet in Flaum, der mich an der Seite kitzelte.

Dienstag, 24. April 2012

Wunder im Garten

Gut behütet in Blüten
Menschen sind merkwürdig. Wenn sie denken, da steht etwas, dann sehen sie auch, dass da etwas steht.

Nach einer Zeit hatte sich mein Finder so daran gewöhnt, dass ich auf meiner Steinscheibe stehe und in den Garten schaue, dass er mich dort sah, ob ich nun dort stand oder nicht. Vielleicht konnte er sich nur nicht vorstellen, dass kleine Bären mit blauem Schal um den Hals gerne einmal woanders sind, als auf einer Steinscheibe auf der Fensterbank.

Zwar war der Ausblick in den Garten vergnüglich, Meister Lampe trieb sich dort herum, auch ein Eichhörnchen und ein Igel, einmal sogar ein Grünspecht. Aber auf Dauer war ich viel zu neugierig, und wollte mehr von der Welt entdecken.

Eines seligen Vormittages war es soweit: Mein Finder schaute gedankenverloren auf den Bildschirm seines Laptops, ab und an tippten seine Finger ein paar schnelle Worte in die Tastatur. Dann wieder schweifte sein Blick durch Raum und Garten, ohne irgendwo Halt zu finden oder irgendetwas zu vergegenwärtigen. Da traute ich mich: Ich trat einen Schritt zur Seite, dann noch einen und noch einen, und schließlich wagte ich den letzten, den großen Schritt hinunter von meiner Steinscheibe.

Wieder schaute mein Finder blicklos rundum, heftete einen kleinen Moment seine so seltsam verlorene Aufmerksamkeit auf die eben von mir verlassene Steinscheibe, und lächtelte dabei entrückt, als sähe er mich dort stehen, wenn auch durch einen Schleier.

Da wusste ich: Mein ist die Freiheit! Ich konnte mich hin- und herbegeben, und immer würde auf der Fensterbank ein kleiner Bär mit blauem Schal um den Hals auf einer Steinscheibe stehen, denn wo ein Wille ist, diesen Bären zu sehen, da ist auch eine Sichtweise.

Als erstes zog es mich in den Garten. Dabei machte ich eine weitere, für mich so wichtige Entdeckung: Ich war ein Wunschwanderer. Ein Wunschwanderer kann etwas sehen, oder er kann sich etwas vorstellen, und schon war er dort, wo er hinwollte, schwupps, und alles "wie" war vergessen. Es ist so ähnlich wie mit dem Gefundenwerden. So wie der Schlaf der kleinere Bruder des Todes ist, ist das Wunschwandern die kleinere Schwester des Gefundenwerdens.

Vergissmeinnicht die Farbe meines Schals!
Sicherlich musste ein guter Wunschwanderer, oder, die gab es genauso: eine gute Wunschwanderin, genau wissen wohin er oder sie wollte. Der Rest ging dann ganz von selbst.

Ich entdeckte, dass ich ein Wunschwanderer war, als ich, fast am Rande der der Verzweiflung, einen Weg vom Fensterbrett in den Garten suchte. Es blühte dort nämlich gerade ein kleines Obstbäumchen so herrlich auf, dass ich so unglaublich gerne dort sein wollte. Dieses Bäumchen, später erfuhr ich, dass es sich um ein Nashi-Birnbäumchen handelte, hatte durch die Zartheit der weißen Blüten eine Sphäre von Freude und Freundlichkeit, dass ich mir sicher war, er könne von Elfen und Devas bewohnt sein. Ich wünschte mir nichts dringlicher, als in diese Atmosphäre von Licht und Leichtigkeit eintauchen zu dürfen.

Es begab sich ein kurzes Einhüllen meines Körpers in eine samtenweiche Lichtblase, ich glaub, wenn ich Härchen gehabt hätte, hätten diese sich aufgestellt, und ich fand mich inmitten zarter weißer Blüten wieder.


Im Blütenwald
Durch diesen Blütenwald schaute ich zum Klein Häuschen. Es war für mich, dem kleinen Bärten mit dem blauen Schal, ein gar riesiges Büschel duftiger Blüten. Ich schaute zum Klein Häuschen, durch das große Atelierfenster hindurch, besorgt, dass mein Finder mein Fehlen bemerke. Der aber saß zudfrieden vor seinem Bildschirm und bemerkte gar nichts außer seinen kleinen schwarzen Buchstaben. Da umfing mich ein großes seliges Glück, wie ein Schauer durchströmte es vom Baume her, in dem ich stand, durch meine Füße, Beine, meinen Bauch und Kopf, um mich mit aller Welt und mit dem Firmament zu verbinden, in welches die friedliche Sonne ihr Leuchten schickte. So groß die Welt! So schön die Welt!

Mittwoch, 18. April 2012

Erste Entdeckungen

Ich bekam einen Ort im Klein Häuschen, welcher der meine wurde. Es war eine kleine runde steinerne Scheibe, eine Art Teller, etwa von der Größe einer Espressountertasse, mit Perlmuttintarsien, welche stilisierte Pflanzen darstellten. Dieser "Steinteller" befand sich auf der Fensterbank des großen zweiteiligen Atelierfensters mit Blick zum Garten hinaus. Mein Finder stellte mich dort hin, so dass ich in den Atelierraum hineingucken konnte. Immer, wenn er einmal wegschaute, guckte ich auch zum Fenster hinaus und begutachtete den Garten. Er war etwas verwildert, und noch ließen sich erste Frühlingsspuren nur erahnen. Noch wirkte der Garten da draußen seltsam trostlos, wie es in dieser Jahreszeit häufig so ist. Der Winter eigentlich schon vergangen, kein gnädiger Schnee mehr bedeckt die Beete und die Wiese, doch ist noch kein aufstrebendes Grün zu erkennen.

Dann wieder schaute ich mich im Raum um, und ich wurde von Ungeduld und Neugierde gepackt. Ich wollte umhergehen und mir alles anschauen. Nur war ich mir nicht so sicher, ob mein Finder das Umhergehen eines kleinen gefundenen Bären mit blauem Schal um den Hals gutheißen oder missbilligen würde. Ich wusste nicht, ob er überhaupt den Umgang mit kleinen gefundenen Bären mit blauem Schal um den Hals gewohnt war. 

Ich stellte mich jedesmal, wenn er zu mir blickte, starr, und tat unbeteiligt. Nach einer Weile nahm er mich wieder in seine Hand und begutachtete mich. Er schaute mich genau von allen Seiten an, und befühlte dabei meine Öse am Scheitel. Er bemerkte, dass sie sich drehen ließ. Sie ließ sich drehen und sogar aus meinem Kopf herausschrauben, und das tat er denn auch. Das Ergebnis dieser Tätigkeit schien ihn nicht ganz zu befriedigen, denn er schaute missmutig auf das so entstandene Loch in meinem kleinen Kopf. Das gefiel ihm offensichtlich nicht. Er stellte mich mitsamt Loch im Kopf wieder auf meinen Steinteller und verschwand im anderen Raum.

Nach einer Weile kam er mit einem schwarzen Schmuckschächtelchen in der Hand wieder zurück. Er öffnete es, und darin waren verschiedene Gegenstände auf weichem Papier gelagert: Eine zwei Zentimeter große Schnitzerei aus Elfenbein, ein Blatt in einem Rechteck darstellend, ein Silbertropfen in Form eines Blattes, unterhalb eines Türkises angebracht, eine winzigkleine grüne Flaumfeder. Letztere entnahm er vorsichtig dem Schächtelchen und wandte sich damit wieder mir zu.

Ich bekam diese kleine grüne Feder in das Loch in meinem Kopf gesteckt, das fühlte sich kribbelig und merkwürdig an. Doch mein Finder lächelte erst, und lachte dann sogar, aber nicht so, dass ich mich ausgelacht fühlen musste. Es war ein heiteres Lachen. Ich selber konnte mich nicht sehen, erst später, als ich Ruhe hatte, betrachtete ich ausgiebig mein Spiegelbild in einem Fahrradklingeldeckel.

Ich muss gestehen, dass ich diese Drapierung zuerst albern fand. Zwar war ich erleichtert, diese merkwürdige Öse los geworden zu sein, sie erinnerte mich doch zu sehr an die Ketten für Sklaven, jedoch die fremde Feder, mit der ich geschmückt war, war auch nicht das gelbe vom Ei. Gewöhnungsbedürftig, ganz sicher. Aber, hmm, es gibt im Leben eines kleinen Bären mit einem blauen Schal um den Hals und einem Loch im Kopf wohl keine optimalen Lösungen. Ich fand es erstaunlich, wie schnell ich dieses kleine grüne Accessoire vergessen konnte. Meistens bemerkte ich es gar nicht mehr, und wenn doch, dann kam es mir immer häufiger "normal" vor.

Später dann hatte ich meine erste große Chance, meine neue Umgebung genauer zu untersuchen. Mein Finder verschwand über eine hölzerne Trittleiter in der Luke im Dach. Später erfuhr ich, dass sich dort oben ein mit viel Holz ausgekleideter Dachboden befand, mit Musikinstrumenten, Büchern, Schallplatten nebst dazugehörigem Abspielgerät und einem großen Bett. 

Mein Finder verschwand also nach oben, und ward fürs erste nicht mehr gesehen. Ich aber packte die Gelegenheit beim Schopfe und schaute mich um.
 



Die große Muschel mit dem Ei

Ich trage ein Geheimnis in mir. . .

Beim Fahrradklingeldeckelxylophon



Montag, 16. April 2012

Klein Häuschen

Casimir (in seiner Nusschale)
Ich wurde geweckt von einem Schaukeln meiner dunklen, warmen, duftenden Höhle. Es war stockdunkel um mich, eine echte und vollkommene Dunkelheit. Ich wusste nicht, wo ich war, und ich wusste auch nicht, wie ich in dieses "Wo-ich-war" hineingekommen sein konnte. Ich wurde in der samtenen Dunkelheit in eine flaumige Ecke geschaukelt, wo ich mich einkuscheln konnte in die wundersam duftenden Irgendwasse, welche mich in meinem "Wo-ich-war" umgaben.

Etwas fand ich erstaunlich, nein, geradezu absonderlich: Obwohl ich so viel nicht wusste, meinen Namen wusste ich! Ich wusste felsenfest und sicher, dass mein Name Kasimir (damals noch mit "K") sei, und dass es daran keinerlei Zweifel geben könne. Das hieß: Etwas war geschehen. Ich war da und in dieser "Was-auch-immer"-Welt, ich war nicht mehr im Orkus eines Verlorenen und Vergessenen verschwunden. Je länger ich meine Gedanken auf dieses erstaunliche Faktum richtete, um so mehr kamen mir Geschehnisse in Erinnerung, stückweise, vor meinem inneren Auge tauchten Gehwegplatten auf, Pflasterfugen, eine vom Straßenstaub vergraute ehmals weißverputzte Hauswand, welche meinem Weiterrollen im Verlorensein Einhalt geboten hatte; es tauchte eine Hand auf, welche mich vorsichtig mit zwei Fingern aufnahm, und da wusste ich es wieder, wusste alles wieder: Ich war gefunden worden!

Ich war gefunden worden, ich durfte wieder in der Welt sein, es war ein seltsamer Kindermensch, der zufällig am Orte meines Verlorenseins vorbeikam, der mich sah, der mich wahrnahm. Der mich leben ließ, weil er Liebe und Leben in so vielen Dingen sah. Oh, welch warme Woge erreichte mich nun in meiner warmen Bettstatt in der kuscheligen Ecke meines "Wo-ich-war". Es war, dass es trotz aller tiefsamtenen Dunkelheit um mich herum hell wurde in einem milden Rosenschimmer, greifbar fast für meine Hände. Ich lebte! Ich hieß Kasimir! Die Welt ist schön!

 Nun wusste ich auch, was mein "Wo-ich-war" bedeutete: Es war die Jackentasche dieses seltsamen Mannes, wo ich neben den duftenden Vorfrühlingsblüten von meinem Fundort fort transportiert wurde. Ich war eingeschlafen im Geruckel und summenden Singsang der fahrenden Straßenbahn, und wurde wieder geweckt durch das Schaukeln der Jackentasche beim Gehen. Es ging irgendwo hin, und ich war gespannt, was das für ein Irgendwo war. Da kam auch schon die Hand meines Finders in die Jackentasche gefahren und holte mich mitsamt der duftenden Blüten an das Tageslicht.


Klein Häuschen im Spätwinter
Ich wurde neben die Blüten auf ein hölzernes Tischchen gestellt. Ich sah mich um. Ich befand mich in einem kleinen Atelier, welches nach zwei Seiten aus Fenstern bestand, nach einer Seite hin war eine Außentür, nach der anderen eine Öffnung, die in einen weiteren Raum wies. Es war hell, denn die Sonne schien durch die Fenster. Mein Finder saß auf einem hölzernen Klappstuhl vor dem Tischchen und betrachtete mich ausnehmend. Er schien sich zu freuen, denn seine Augen leuchteten.

Ich sah mich weiter um. Das Umsehen lohnte sich in diesem kleinen Atelier, denn es waren die merkwürdigsten Gegenstände um mich herum. Die Scheiben der Fenster zu meiner linken Hand waren teilweise farbig, und sie steckten in schwungvollen weißen Holzrahmen. Zum Garten hin waren drei große Fenster, welche den Ateliereindruck hinterließen. Hinter ihnen konnte man zwei Obstbäume ausmachen, bevor sich der Blick in unentwirrbares Gesträuch verlor.

Am oberen Rahmen des mittleren der drei großen Fenster hing an einem fast unsichtbaren Nylonfaden eine kleine facettierte Kristallkugel, die kleine Regenbogentropfen von Sonnenlicht in den Raum sandte. Auf der schmalen weißgestrichenen hölzernen Fensterbank standen einige Gegenstände: Ein großer dunkelroter Bilderrahmen aus Holz war an das linke Fenster gelehnt. Von ihm eingefangen standen in zwei Flaschen, einer Malzbier- und einer Olivenölflasche, zwei Stabpuppen, deren Korpusse offensichtlich aus ausgedienten Kochlöffeln bestanden. Sie stellten einen jungen Mann mit Knopfaugen und Knubbelnase dar und eine schwarze Zauberin mit Haselaugen, Muschelmund und einer blaubunten Eichelhäherfeder statt eines Haarschopfes. Sie trug ein vielfarbiges glitzerndes Gewand und einen Ohrring mit einem dunklen hölzernen Halbmond, auch wenn sie keine Ohren an ihrem Kochlöffelkopf besaß.

Duftende Blüten des Spätwinters
An den Bilderrahmen wiederum angelehnt war eine kleine Stabhandtrommel mit zwei Holzperlen an Bändern und einem Zebramuster auf dem Fell, welches offensichtlich aufgemalt war. Dann kam ein Taschenschachspiel aus Holz, eine große perlmuttschimmernde Meeresmuschel, ein kleine gläserne Schüssel, in der sich trockene Bohnen befanden und ganz in der Ecke ein kleiner Kaktus ohne Stacheln, silbergrau mit Fünfsternmuster, der in einem kleinen Plastiktöpfchen zu hause war.

In ähnlicher Anordnung von Dingen war der gesamte Raum erfüllt, und auch der angrenzende schien in allen Ecken und auf allen Regalen das merkwürdigste Sammelsurium zu beherbergen. So stand ich denn auf diesem hölzernen Tisch inmitten der verwirrenden Vielfalt und schaute meinen Finder an, und er schaute mich an, und so war es. . .

Casimir stellt sich vor

Casimir, so, wie er gefunden wurde
Ich bin Casimir. Nein, das ist nicht richtig, denn noch bin ich Kasimir, und ich weiß noch nicht, was auf mich zukommt. Oh, auch das ist nicht richtig. Noch weiß ich gar nicht, dass ich erst Kasimir, und dann Casimir werde, und dass ich viele Freundinnen und Freunde finden und viele Abenteuer erleben werde.

Noch bin ich einfach nur ein verlorener Bär mit einem blauen Schal. Aber nicht einmal das weiß ich. Ich bin einfach nur verloren. Dass ich einmal zu einem Anhänger gehört haben muss, zeigt eine metallene Öse auf meinem Kopf. Aber das Verlorenwerden ist vor dieser Geschichte, und es ist eigentlich keine Geschichte, sonst könnte ich es erinnern. Doch ich weiß nicht wie, wo und wem ich verloren ging, ich weiß nicht, ob ich im Verlorensein vermisst wurde. Das sind Dinge, die vor meinem Gefundenwerden stattfanden, und lange bevor ich meine Namen bekam.

Aber der Reihe nach. Sofern es überhaupt eine Reihe gibt, so eine Reihe von Zeitpunkten, die nacheinander folgen, eine Kette von Zeitperlen, ja, so könnte man es nennen, jede zu ihrer Zeit, eine nach der anderen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es diese Ketten in Geschichten überhaupt geben kann, denn Geschichten sind wie das Leben selbst. Vom Leben selbst weiß ich zwar nicht viel, denn solange habe ich noch nicht mein Gefundenwerden, doch schon in der verhältnismäßig kurzen Zeit, in der ich mich in dieser Geschichte aufhalte, durfte ich lernen, dass im Leben viele Geschichten ineinander verflochten sind, und irgendwie möchte das alles nicht geradlinig verlaufen.

Casimir ohne Haken und Öse
Also begann meine Geschichte, oder, besser, eine meiner Geschichten, und zwar eine derer, die ich nicht vergessen habe, es begann meine Geschichte mit dem Gefundenwerden. So wurde aus dem Gefundenwerden ein Gefundensein. Damit möchte ich diese Geschichte beginnen lassen.

Kleine Bären mit einem blauen Schal um den Hals werden nicht geboren, so wie Eichhörnchen oder Katzen oder Menschenkinder geboren werden. Das habe ich schon verstanden. Die kleinen Kätzchen und Eichhörnchen und Menschenkinder sind ganz hilflos, und leben in ihrer eigenen Welt und gleichen sich mehr und mehr der Welt ihrer Eltern an, bis sie gelernt haben, sich dort zurecht zu finden.

Als ich gefunden wurde, konnte ich mich sofort in der Welt zurechtfinden, denn ich war ja „erwachsen“, im Sinne von ausgewachsen. Ich wusste, was eine Straßenbahn ist, dass ich bei Rot  nicht über die Straße gehen darf, dass die komischen Kringel auf dem Ladenschild „Bäcker“ bedeuten, und dass Mathematik die Lehre von den Zahlen ist. All das und noch viel mehr wusste ich. Ich konnte nach meinem Gefundenwerden quasi sofort aufstehen und mir ein Brötchen kaufen, ohne von einer Straßenbahn überfahren zu werden.

Dieses Mal wurde ich gefunden von einem Mann, der den Bürgersteig im Viertel entlang ging. Nicht in einem Viertel der Stadt, sondern in dem Viertel. Das wird so genannt hier: das Viertel. Ich lag in der Nähe des einen Kinos, direkt an der Wand. Es war bestimmt nicht einfach, mich zu sehen. Aber dieser Mann sah mich. Er blickte die meiste Zeit auf den Boden, selten in die Gesichter der entgegenkommenden Passanten oder in die Schaufenster der vielfältigen kleinen Läden. Er sah mich, sah sich kurz um, als wäre es ihm etwas peinlich, Dinge von der Straße aufzuheben, und, als wolle er sich vergewissern, ob keiner zuschaut. Dann bückte er sich kurz, nahm mich auf, hielt mich in der Handfläche, mit gekrümmten Fingern, richtete sich schnell wieder auf und ging weiter. Das alles ging sehr hurtig vonstatten, so als läge eine lange Übung darin. Mir kam es so vor, dass dieser Mann öfter etwas fand, und so war es schließlich auch. Ich wurde von einem Dingefinder gefunden.

Lang war er, und hager. Schwer einschätzbar sein Alter, aber schon weit jenseits der Mitte vierzig, die Haare waren schon grau. Sie waren ihrem Schnitt etwas entwachsen, lagen am Kragen des dunkelblauen Hemdes auf, ließen jedoch die Ohren frei. Über der Stirne fielen seine Haare fast in die Augen, die klug und etwas traurig aus dem feingeschnittenen Gesicht schauten. Eine leichte Müdigkeit lag über diesem Gesicht und die Haut war etwas gerötet, besonders rechts und links von der Nase zeigten sich kleine rote Flecken. Auch sah es aus, als wäre die morgendliche Rasur ausgefallen. Im großen und ganzen war er eine unauffällige Erscheinung, in schwarze Jeans gekleidet, die Schuhe einfache dunkle Schnürschuhe, denen man ihren längeren und häufigen Gebrauch ansah.

Er querte hastig eine nahe Kreuzung, die Fußgängerampel zeigte für ihn gerade grün, dann, nach ein paar Schritten, hob er seine Hand, öffnete sie und schaute mich an. Er schaute mich an, im Gehen, er wurde langsamer, während er schaute, und dann begann er zu lächeln. Es war ein Lächeln, dass sich wie ein freundlicher morgendlicher Sonnenaufgang über seinem Gesicht ausbreitete. Mit einem Male war sein gesamtes Gesicht ein Lächeln, und selbst seine hagere Gestalt schien mit zu lächeln. Es lächelte alles an ihm.

Ich weiß nicht, ob es eine Reaktion auf mein breites heiteres Kleine-Bären-Lächeln war,  was ihn so strahlen ließ, aber er gefiel mir dadurch sofort, und auch ich schien ihm augenblicklich zu gefallen. Er blieb sogar stehen, mitten auf dem Bürgersteig, und ohne auf irgendwelche Passanten und ihre Reaktionen zu achten, er blieb einfach stehen und schaute mich fröhlich an. Wir schauten uns an. Ich fühle mich wie neugeboren, und so war es ja auch. Das Erstaunliche jedoch war, ihm schien es genauso zu gehen.

Eine junge Frau in einem geblümten leichten Kleid unter einem Bolerojäckchen schaute ihn belustigt an, auch sie musste unwillkürlich lächeln, und ihre Augen begannen zu glänzen. Es war, als hätte der Bürgersteig um uns herum eine Aura von Heiterkeit gewonnen.

Mit dem unausgesprochenen, wenn auch etwas belustigten Zuspruch der Frau wurde ihm gewahr, dass er sich immer noch mitten auf einem Bürgersteig im Viertel befand. Sofort erlosch das Lächeln in seinem Antlitz, er schaute sich etwas scheu um, ob noch weitere Passanten ihn beobachten, und, da das wohl nicht der Fall war, setzte er wieder eine neutrale Miene auf, die ihn fast unsichtbar machte. Dabei schob er die Hand, in der ich mich befand, in eine seiner Jackentaschen und platzierte mich sorgsam dort hinein.

Häuptling Casimir (dazu später mehr. . .)
Er war dabei sehr vorsichtig, und ich merkte schnell, woher diese Vorsicht rührte, als erstes verkündete es mir meine Nase: In der Jackentasche befand sich ein duftendes Blütenbüschel von rosafarbenen Blüten. Diese Blüten waren so in die Jackentasche gezirkelt, das sie nicht gedrückt wurden.

Letzteres erklärte auch den etwas seltsam schrägen Gang, den er an sich hatte. Die Hand über der Jackentasche war immer etwas abgespreizt von der Jacke gehalten, dass sie auch ja nicht den Inhalt der Tasche drücke. In dieser duftenden Wohnstatt befand ich mich jetzt. Es gefiel mir dort und ich machte es mir bequem, indem ich meinen Kopf in duftende Blütenblätter legte, als wären es die Lustkissen der Königin Kleopatra. So ließ ich mich tragen und erwartete die Dinge, die da kommen würden.

 Ich spürte, dass wir noch eine Weile gingen, dann standen, und schließlich in eine Straßenbahn einstiegen. Bei deren Geruckel und summenden Fahrgeräuschen schlief ich ein.